Für die Anerkennung der Jenischen in Europa!

Rede der Radgenossenschaft, vorgetragen durch den Geschäftsführer
Willi Wottreng, am europäischen Kulturtag in Ichenhausen und am
jenischen Kulturtag in Innsbruck, Oktober 2019.

Liebe Anwesende, liebe Jenische
Ich darf Ihnen eine Neuigkeit präsentieren, eine europäische jenische Petition
und einen europäischen jenischen Rat.
Jenische Existenz, das war immer zum Weinen und zum Lachen.
Himmelhochjauchendzutodebetrübt, wie man so sagt. So viel Schönes liesse
sich berichten, so viel Trauriges darf nicht vergessen werden.
Auch heute erleben wir zwei gegenläufige Bewegungen: Auf der einen Seite
wird der Lebensraum der Jenischen eingeschränkt. In Deutschland klagen
Schrotthändler über immer mehr bürokratische Behinderungen, die ihnen das
Gewerbe fast verunmöglichen. In der Schweiz verwirft eine Gemeinde nach der
andern die Schaffung von Durchgangsplätzen für sogenannte Fahrende – wobei
wir in einem Fall nun vor Gericht gehen und einen Musterprozess durchführen.
Von Irland hören wir, dass Travellers nicht mehr hausieren dürfen und nach ein
zwei Nächten ohnehin weiterfahren müssen. In den Niederlanden werden
Wohnwagen von Reisenden, die sich nicht an Vorschriften halten, angeblich
verbrannt.
Auf der andern Seite, seien wir ehrlich, hat sich seit einigen Jahrzehnten eine
ungeheure, irgendwie auch grossartige Entwicklung gezeigt. Nach dem
Weltkrieg, nach dem Nationalsozialismus waren die Jenischen ein Niemand. Sie
galten bestenfalls als Asoziale, ich muss es so sagen. Dann begannen sie sich zu
zeigen, hartnäckige Pflanzen. Um nicht immer den Vergleich mit dem
widerständigen Kaktus oder auch dem Igel zu bringen, verwende ich hier einmal
das Bild des Edelweiss. Diese Pflanze sieht auch noch besonders schön aus. Sie
kennen diese pelzigen weissen Hochblätter. Jenische sind wie Edelweiss, das
auf steinigen Wiesen und Kalksteinfelsen wächst.
In der Schweiz, dank glücklichen Umständen, wurde Anfang 1970er Jahr eine
Renaissance eingeleitet. Die Radgenossenschaft der Landstrasse ist die älteste
heute noch bestehende jenische Organisation dieses frühen Aufbruchs. Mit der
einzigen jenischen Zeitung der Welt, dem Scharotl, was Wohnwagen heisst.

Aber auch in Deutschland gab es Bemerkenswertes: In Ichenhausen wurde um
1980 ein jenischer Fussballklub gegründet, der das jenische Selbstbewusstsein
stärkte. Grünweiss-Ichenhausen, der heute noch kampfbegeistert spielt, auf dem
vereinseigenen Fussballfeld. Es gibt einen jenischen Motorradklub. Und auch
auf dem steinigen Boden Österreich hat sich manches getan: Hartnäckig wird in
Innsbruck schon zum vierten Mal ein jenischer Kulturtag organisiert. Der
verstorbene jenische Rangierarbeiter und Professor ehrenhalber Romed
Mungenast hat entscheidende Impulse geliefert, die über sein Land hinaus
wirkten.
Viele Versuche hat es gegeben, Jenische auch europaweit zu vernetzen. Manche
sind gescheitert. Jenische sind schwierig zu organisieren, wir wissen es. Sie sind
Einzelgänger. Oder Familientiere. Aber dafür sind sie Überlebenskünstler. Sie
wissen sich sogar ohne Organisation immer wieder von neuem zu behaupten.
Wie Edelweiss. Wenn man die Pflanze aus der Wiese ausreisst, dann wächst sie
halt am steilen Hang, und dies gern in Gruppen.
Heute haben wir die Situation, dass Jenische in vielen Ländern Europas sich
zeigen. Plötzlich sehen wir Edelweiss-Familien dort, wo man sie lange nicht
gesehen hat. In Luxemburg sind Jenische daran, ihre Geschichte aufzuarbeiten.
Der Luxemburger Jenische Oliver Kayser berichtet, dass einige
Familienvertreter ein luxemburgisches Archiv der Jenischen aufbauen und ihre
Geschichte zeigen wollen. In Frankreich fanden wir wunderbare jenische
Freunde in Lothringen; und man muss dazu sagen, dass Lothringen nicht irgend
eine abseitige Ecke ist für die jenische Kultur, sondern eine unerschöpfliche
Quelle: Viele Familien in Elsass, im Pariser Becken, in der Auvergne, selbst im
Süden Frankreichs kommen ursprünglich aus Lothringen.
Uns scheint, die jenischen Stimmen werden lauter. Es gibt in der Schweiz
mehrere Beispiele von Jenischen, die einst ihren Familien entrissen wurden,
andere Namen erhalten haben und die jetzt ihre jenischen Namen
zurückforderten und auch erhalten haben. Es gibt europaweit vermehrt jenische
Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die an Literaturanlässen auftreten. Es gibt
Musiker und Musikerinnen, etwa die junge französische Rapperin, die sich
„Lora Yéniche“ nennt. Es gibt den Film „Nebel im August“ über den jenischen
Jungen Ernst Lossa, der im KZ ermordet wurde, eine brutale ehrliche
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Es gibt den Film “Unerhört
Jenisch“, der vielen plötzlich bewusst gemacht hat, dass ein guter Teil
zumindest der schweizerischen Volksmusik von der jenischen Musik beeinfluss
ist, einer Musik, die einen unnachahmlichen „jenischen Zwick“ hat, wie ein
jenischer Musiker einmal gesagt hat. Der Film wird hier in Innsbruck gezeigt.
Allmählich wird auch die jenische Sprache wieder ausgegraben und geschätzt.
In jedem Land verlaufen die Entwicklungen ein wenig anders.

Vielfalt charakterisiert die Jenischen. Die Jenischen waren schon immer ein
Blumenteppich, vielfältig und keine Grenzen respektierend, auch keine
Landesgrenzen. Es wäre sicher eine Illusion, zu glauben, man könnte eine Art
von europäischer jenischer Partei gründen, vereinheitlicht im Denken und
Auftreten. Sitzungen, Programme, Bürokratie, Vereinsmeierei und
Mitgliederbeiträge sind nicht die Sache der Jenischen. Aber wir können an
diesem Blumenteppich weben. Vernetzen, weiterweben an der ganzen schönen
Vielfalt.
Ein Motiv findet sich immer wieder auf diesem Teppich in jedem Land. Und das
gibt ihm letztlich doch eine Einheit. Das Motiv heisst Würde und Anerkennung.
Die Jenischen in jedem Land verlangen Anerkennung. Wobei Anerkennung eine
ganze Reihe von Dingen bedeutet. Es beginnt beim Namen: Man soll
anerkennen, wie die Jenischen sich selber nennen. Jenische eben. Es sind keine
Wackes und keine Zigeuner und auch keine Roma. Es sind Jenische. Es sind
nicht Menschen zweiter oder dritter Klasse. Die Behörden müssen ihnen auf
Augenhöhe begegnen, schon das ist eine Form von Anerkennung.
Darüber hinaus muss man eingestehen, dass in der Vergangenheit Verbrechen
an den Jenischen begangen wurden. Sie wurden in der Nazizeit verfolgt, in KZs
ermordet, in Kliniken medizinisch traktiert. Kinder wurden ihnen
weggenommen, Mütter sterilisiert. Auch dessen bewusst zu werden ist eine
Form von Anerkennung.
Und schliesslich gibt es die Anerkennung im Sinne der staatlichen
Gesetzgebung. In der Schweiz haben es glückliche Umstände – etwa ein
wohlgesinnter Innenminister – und vielleicht eine geschickte Politik von
Radgenossenschaft und andern wie dem Verein Schäft Qwant erreicht, dass die
Jenischen als nationale Minderheit anerkannt sind. Jahrzehntelang haben wir
dafür gekämpft. Vor allem die Aktivisten und die Jenischen, die vor uns waren.
Lange ging es nur zäh voran. 2016 kam der Durchbruch. Nach einer Petition der
Jenischen. Der Druck war gross genug, der Moment der richtig. Dann ging es
wie ein Schnitt durch Butter.
Auch die jenische Sprache ist in der Schweiz als Minderheitensprache
anerkannt.
Ich muss allerdings einen bitteren Punkt berühren. Das ist die Situation in den
Gremien des Europarates. Der Europarat hat sich eingeschossen auf die
Formulierung: „Roma and Travellers“. Roma und Reisende. Es gibt für ihn
Roma und es gibt Fahrende. Jenische gibt es für ihn nicht. Noch nicht. Damit
müssen wir im Moment leben. Das heisst aber auch, wir können nicht einfach
hingehen und sagen, bitte unterstützt die Anliegen der Jenischen! Wir müssen
zuerst auf die eigenen Beine stehen und sagen: Es gibt Jenische. Hier sind
Jenische. Wir sind Jenische. Man muss hinstehen und verlangen: Anerkennt die
Tatsache, dass es uns gibt, und nennt uns auch so. Die Jenischen müssen sich
zuerst zeigen. Daran arbeiten wir.
Aber das ist das nächste Ziel: Wir wollen die Anerkennung der Jenischen auf
europäischer Ebene und in jedem europäischen Land. Seht doch, wie die
Jenischen den Alpenraum bereichern, gleich wie das Edelweiss. Aber hier endet
dann der Vergleich. Weil manche meinen, Edelweiss seien einfach Zierpflanzen,
geschützte zudem.
Die Jenischen waren natürlich nie Zierpflanzen. Sie haben beigetragen, dass die
Gesellschaften in den europäischen Kernländern bereichert wurden, durch
Handel, durch Austausch von Informationen auch. Das wären grässlich öde
Wiesen, wenn es die Jenischen nicht gäbe. Jenische waren immer eher
Nutzpflanzen als Zierpflanzen. Wobei Jenische wissen, dass auch das Edelweiss
nützlich sein kann. Ich schweife hier ein wenig ab: Edelweiss spielte eine Rolle
in der Volksmedizin: Bereits im 19. Jahrhundert wurde Edelweiss in der
Volksmedizin gegen Bauchweh, Halsschmerzen, Bronchitis, Durchfall und Ruhr
verwendet. Und heute wird es gezüchtet und zu Medikamenten verarbeitet, vor
allem bei Magenproblemen. Und natürlich gibt es Edelweiss-Schnaps; „er wird
nicht gebrannt, sondern eingelegt”, sagt ein Produzent.
Vielleicht denken manche, die Anerkennung der Jenischen sei ein grosses Ziel.
Eigentlich ist es nicht viel, es braucht nicht viel Geld, es braucht nicht viel
Veränderungen. Anerkennung ist zuerst nur ein Akt des Respekts. Eine Frage
des Verhaltens. Aber gerade darum ist es tatsächlich ein grosses Ziel. Das
Verhalten einer Gesellschaft zu ändern, ist schwierig. Ich sage hier nur: Wir
werden es durchsetzen, über kurz oder lang.
An einem jenischen Kulturfest in Ichenhausen in Bayern gab es am
vergangenen 5. Oktober 2019 gleich zwei Premieren. Zum einen wurde ein
europäischer jenischen Rat vorgestellt. Vorbereitet hatten wir das über den
Sommer hinweg, die interne Gründung erfolgte am 2. Juli 2019 im deutschen
Singen. Jenische aus Deutschland, Oesterreich, Frankreich, Luxemburg und der
Schweiz sind dabei. Der Zweck dieses europäischen Rats ist einfach: Für die
Anerkennung der Jenischen europaweit einzustehen. Die Statuten liegen auch
hier auf; sie tönen ein bisschen kompliziert, grad weil wir einfach bleiben
wollen. Nach jenischer Art hat dieser Rat weder einen Präsidenten und er
verlangt auch keine Mitgliederbeiträge. Wir sind so etwas wie eine jenische
Landsgemeinde. Wir sind so etwas wie ein europäischer Song Contest, wo bei
wichtigen Fragen jedes Land seine Stimme zu einem Problem abgeben kann und
nicht einmal an einen Versammlungsort reisen muss. Der juristische Sitz des
Europäischen Jenischen Rats ist in der Schweiz, in Zürich. Wir fordern Jenische
auf, diesem europäischen Rat beizutreten. Man kann sich einfach bei mir
melden. Im weiteren wurde in Ichenhausen auch ein deutscher Zentralrat der
Jenischen gegründet. Wir freuen uns über diesen neuen Schritt.
Der europäische jenische Rat hat letzte Woche auch eine Petition an den
Europarat lanciert. Jenische Erstunterzeichner aus den genannten europäischen
Ländern sind vorhanden. Ich zitiere daraus: „Die Anerkennung und die richtige
Selbstbezeichnung ist für die Jenischen von existentieller Bedeutung. Sie gibt
ihnen die Wertschätzung und die Würde, auf die sie als Minderheit Anspruch
erheben. Sie verschafft ihnen die Grundlage, auf der sie den Kampf für ihre
sozialen, kulturellen und politischen Rechte führen können. Wir unterzeichnende
Bürger von Mitgliedstaaten des Europarates und Vertreter von
Minderheitenorganisationen, fordern den Europarat auf, die Jenischen auf allen
Stufen ihrer Organe und in allen Bereichen ihrer Minderheitenpolitik zu
respektieren, anzuerkennen und gemäss ihrer Eigenbezeichnung zu benennen.“
Auch diese Petition liegt hier auf. Wir rufen alle auf, Jenische und
Nichtjenische, diese Petition hier und jetzt zu unterzeichnen und sie
weiterzuverbreiten. Wir werden sie dem Europarat einreichen. Als ein Zeichen
dafür, dass die Jenischen nicht bloss ein Mauerblümchen sind irgendwo an
einem steilen Fels. Sondern eine Pflanze, die sich hartnäckig hält und hartnäckig
ihren Lebensraum verlangt.