Jenische geniessen das Leben – eine kleine Wortgeschichte (I)
Angeblich komme das Wort «Jenisch» aus der Sprache der Roma. Sprach
wissenschafter behaupten dies seit Jahrzehnten. Und zwar solle es aus ei
nem Wort «džan» oder auch «džin» stammen, was «wissen» und «einge
weiht sein» bedeute.(1)
Wir glauben das nicht. Die Konstruktion der Sprachforscher hängt an einem
sehr dünnen Faden. Dass sich das Wort tatsächlich aus dem Romanes ent
wickelt hat, dafür gibt es keine Beweise.
Der erste Wissenschafter, der dies behauptete, war ein Siegmund A. Wolf. In
seinem Buch «Wörterbuch des Rotwelschen», das 1956 erstmals erschien,
erklärt er: «Jenisch geht zurück auf die zigeunerische Wurzel ‹dšan› – wis
sen». Jenische Leute seien also «kluge gescheite Leut». Dass sie das sind,
stimmt ja, aber das Wort muss nicht genau das heissen. Wolf sagt noch,
dass der Ausdruck also ähnlich sei wie der jiddische Ausdruck «Kochem
Loschen». Auch das bedeute «Kluge Leute». Darum müsse das wohl stim
men.(2) Seither schreiben ihm viele Sprachforscher ab. Heute bezeichnet
sich eine Vereinigung von Händlern in Luxemburg als «Kochemer Loschen».
Der Forscher Yaron Matras, der den Einfluss des Romanes auf die deutsche
Sprache untersucht hat, schreibt, dass von der Formenbildung her eine sol
che Entwicklung zwar möglich wäre, aber für wahrscheinlich hält er es nicht;
denn in älteren volkstümlichen Sprachvarianten im deutschen Raum, vor
dem 18. Jahrhundert, fänden sich jedenfalls keinerlei Romanes-Wörter.(3)
Viele haben an dieser Theorie – das Wort «Jenisch» komme aus dem Ro
manes-Wort für «Wissen», «klug» oder «Eingeweihtsein» – wohl auch dar
um festgehalten, weil sich auf diese Weise ein geheimnisvoller Mantel um
die Jenischen legt. Sie wären also Menschen mit dem geheimen Wissen.
Aber es ist schwer verständlich, warum Jenische gerade ein Romanes-Wort
für ihre Bezeichnung gewählt haben sollen. Oder warum Nichtjenische, die
kein Romanes können, zur Bezeichnung von Jenischen ausgerechnet ein
Romanes-Wort wählen sollten. Oder warum Roma-Angehörige, die sich
wohl selber als Wissende verstanden, gerade die Jenischen als Wissende
bezeichnet sollten.
Tatsächlich ist diese Gleichsetzung von «Jenisch» mit «Wissen» erstmals
beim Hauptmann der Königlichen Bayrischen Armee Josef K. von Train zu
finden, der zuhanden von Polizei und Justiz in den 1830er Jahren die Spra
che von «Gaunern» und die Sprache von Jenischen aufschrieb. Und weil er
den Ausdruck «Chochemer Loschen» kannte und den Ausdruck «Jenische
Sprache», sagte er, dass «Jenische Sprache» volkstümlich für «Chochemer
Loschen» stehe.(4) Vielleicht hatte er das so gehört. Und später suchten
manche nach einer entsprechenden Herleitung des Wortes «jenisch».
Einige halten zu dieser Theorie, weil sie offenbar fürchten, man müsste
sonst das Wort «jenisch» auf das Wort «Gauner / Jauner» zurückführen. Wir
glauben beides nicht. Wir glauben, dass «Jenisch» aus einem eigenständi
gen Wort in der deutschen Volkssprache des Mittelalters kommt, das wie
viele Wörter verlorenging. Oder fast verlorenging.
Sucht man beim Autor Sebastian Brant, in dessen Buch «Narrenschiff» sich
einige heute noch benutzte jenische Wörter finden, kann man eine Entde
ckung machen. Brant hat auch ein Werk eines fahrenden Kirchenmannes
des 13. Jahrhunderts herausgegeben, der sich «Freidank» nannte: «Vridan
kes Bescheidenheit». In einer Folgeausgabe aus 1538 findet sich ein Wort,
das bisher sprachgeschichtlich weder beachtet noch in seiner Entwicklung
verfolgt worden ist: «Jenne». Ob die Verse wirklich von diesem Freidank
stammen, ist unklar, da sie erst später in einem Buch auftauchen. Jedenfalls
wird in diesen Freidank-Versen ein Mann als ein «Jenne» bezeichnet, weil er
mit seiner Frau spaziert oder mit ihr zu Hause sein Vergnügen hat.(5) Dem
Zusammenhang nach bedeutet das eine Person, die nicht auf dem Feld ar
beitet oder in einem Gewerbe wie «normale» Bauern oder Bürger. Sondern
die den Tag und das Leben geniesst. Sagen wir: einen Müssiggänger und
Geniesser. Es ist kein Dieb, aber allenfalls ein Tagedieb aus deren Sicht.
Die Verse wurden 1854 von einem Friedrich Zarncke wieder veröffentlicht,
und die bekannten Brüder Grimm haben das Wort samt den Versen im
19. Jahrhundert in ihr deutsches Wörterbuch aufgenommen: «Jenne» – und
zwar der Jenne oder die Jenne –, ohne Erklärung zur Wortbedeutung.(6)
Es gibt weitere Spuren. In einem Lexikon von 1906 aus den Niederlanden
über die Sprache von sogenannten Gaunern – die Sprache heisst «Boeven
Taal» – finden wir ein Wort «jennen». Dieses bezeichne «spielen, lügen».(7)
Da ist man nicht so weit vom «Jenne», dem Müssiggänger aus dem Vers bei
Brant entfernt, der statt zu arbeiten die von Gott geschenkten Stunden ver
spielt und vielleicht nach aussen so tut, als arbeite er.
Es bleibt rätselhaft, warum der Sprachforscher Wolf das Wort aus dem Ro
manes herleitet, wo ihm auch das näher gelegen Wort «Jenne» und
«jennen» zur Verfügung gestanden hätte.
Vielleicht liegt beim frühen Wort «Jenne» sogar ein Schlüssel zu Einsichten
über die Existenz der Jenischen vor dem Dreissigjährigen Krieg, ist es doch
älter als dieser Krieg. Ein Sprachforscher, den wir hier nicht namentlich er
wähnen, weil er sich in einem privaten Mail an den Autor geäussert hat,
schreibt, dass die Vermutung, wonach das alte Wort «Jenne» eine Verbin
dung zu den «Jenischen» habe, «eine ernstzunehmende Deutungskonkur
renz» zu den bisherigen Erklärungen für die Bezeichnung der Jenischen
darstelle.
Willi Wottreng, M.A., Historiker
Anmerkungen
(1) Siehe: Friedrich Kluge/Elmar Seebold: Ety
mologisches Wörterbuch der deutschen Spra
che, 23. erweiterte Auflage, Walter de Gruyter,
Berlin/New York 1995, S. 411. Wikipedia,
Stichwort «Jenische Sprache», Abschnitt
«Sprachbezeichnung»; sowie diverse einzelne
Autoren. Vgl. auch: Hansjörg Roth: Jenisches
Wörterbuch. Aus dem Sprachschatz Jenischer
in der Schweiz, Frauenfeld / Stuttgart / Wien,
2001; Stichwort «Jänisch», S. 285 f.
(2) Sigmund A. Wolf: Wörterbuch des Rotwel
schen. Deutsche Gaunersprache; zitiert nach
der 2. Auflage, Bibliographisches Institut, Ham
burg 1985; Stichwort «jenisch», S. 144/145.
(3) Yaron Matras: The Romani element in Ger
man secret languages: Jenisch and Rot
welsch, in: Derselbe (Hrsg): The Romani ele
ment in non-standard speech, Wiesbaden
1998, S. 193–230, hier: S. 196 Textteil und
Anm. 6, aus dem Englischen zusammenfas
send referiert von ww.
(4) Josef Karl von Train: «Chochemer Lo
schen. Wörterbuch der Gauner- und Dieb –
vulgo jenischen Sprache nach Criminalac
ten…», Verlag F. W. Goesche, Meissen 1833.
Nachdruck ULAN Press, Leipzig 2012.
(5) Verse von Freidank, hrsg. von Sebastian
Brant, Worms 1538. Publiziert in: Friedrich
Zarncke (Hrsg.): Sebastian Brants Narren
schiff, Georg Wigands Verlag, Leipzig 1854,
167b. Wiederum enthalten in: Jacob und Wil
helm Grimm: Deutsches Wörterbuch, ab 1854,
dort unter dem Stichwort Jenne» (Online
version: http://dwb.uni-trier.de/de/die-digitale
version/volltextdigitalisierung).
(6) Siehe oben, Anmerkung 5.
(7) W. L. H. Köster Henke: De Boeventaal
(ww. Die Gauner-Sprache), zakwoordenboekje
van het Bargoenchsof de taal van de jongens
van de vlakte, in woorden en zinnen alphabe
tisch gerangschikt, Verlag Schaafsma / Brou
wer, Dockum 1906, S. 28. Den Hinweis fand
ich in: Heidi Schleich: Das Jenische in Tirol,
3. erweiterte Auflage, EYE Literaturverlag der
Wenigerheiten, Landeck 2018, S. 99, Anm. 2.
Ein Wort und eine Räubergeschichte
Warum «jenisch» eher von «Jenne» stammt
als von einem Romanes Wort (II)
Das «Scharotl» hat im Februar 2019 kritisiert, es sei unwahrscheinlich,
dass das Wort Jenisch aus dem Romanes komme, wie Sprachwissenschaftler annehmen.
Es stammeeher von einem deutschen Wort«Jenne», das im Jahr 1538 in einem
Gedicht bezeugt ist und einen Lebensgeniesser bezeichnet.
«Jenisch» heisse weise sein, eingeweiht sein, lautete die bisherige Theorie. Sie stützt sich auch darauf,
dass angeblich das jiddische Wort«chochem» dasselbe bezeichne,nämlich Eingeweihte, Wissende, und dass Jenische beide Wörter für sich
verwendet hätten. Diese Erklärung findet sich etwa in der Einleitungüber die «jenische Sprache» in «Wikipedia». Dass Jenische so etwas wie Eingeweihte seien, Wissende,
findet sich etwa in der Einleitung über die «jenische Sprache» in«Wikipedia». Dass Jenische so etwas wie Eingeweihte seien, Wissende oder fast Heilige, klingt natürlich
schmeichelnd. Aber schauen wir uns das Wort «chochem» und «Kochemer» an.
Im 17. und Anfang 18. Jahrhundert gab es gemäss Prozessakten sogenannte Gauner- oder Räuberbanden links und rechts des Rheins, deren Aktivitäten von der Pfalz bis in die
Niederlande reichten. Etwa die des legendären Johannes Bückler, genannt Schinderhannes. Die von Mathias Weber, genannt der Fetzer, den wir vermutungsweise einem jenisch
geprägten Milieu zurechnen, werden seine Kumpels doch Scherenschleifer genannt (1). Oder die von Abraham Picard, einem Anführer einer jüdischen Gruppe. Gemäss den
vorhandenen Quellen abenteuerten sie –nur eigenen Gesetzen folgend – in erschiedenen Zusammensetzungen durch die Lande und arbeiteten
dabei auch miteinander zusammen, Fetzer etwa und Picard. So müssen jiddische Wörter in dieses Milieu eingeflossen sein.
Die in wechselnden Zusammensetzungen operierenden Gruppen verwendeten das Wort «Kochemer» etwa, wenn es darum ging, ob jemand
vertrauenswürdig sei, ob man ihn in die Planung eines Überfalles, der Einrichtung eines Fluchtortes, der Organisierung eines Beutedepots
einbeziehen könnte oder nicht. Und wenn man fand, der sei vertrauenswürdig, nannte man die Person einen «Kochemer». Gemäss einem
Prozessberichterstatter namens Becker erklärt Fetzer, der nichtjüdische Bandenführer, dass fast alle Häuser an einem bestimmten Ort «kochem»
seien oder dass sie bei einem Mann einkehren könnten, der «kochem» sei.
Verwendet wurde das Wort nicht speziell für Jenische, es finden sich jedenfalls keine Hinweise dafür: Offensichtlich konnte irgend ein Wirt
oder irgend ein Müller «kochem» sein, vertrauenswürdig. Oder ein jüdisches Haus .
Dass dann Polizeibeamte oder auch Sprachforscher schlossen, es seien damit Jenische gemeint, ist ihre Phantasie. In den Quellen ist dies schlicht nicht
belegbar. Es waren offensichtlich alle gemeint, die man in einen Planeinweihen konnte.
Auch von dieser Seite betrachtet, stürzt die These zusammen, dass «Jenische» nach dem Beispiel der «Chochemer» Eingeweihte oder
Wissende bedeute. Es wurden auch andere Leute damit bezeichnet als Jenische. Und das waren nicht Weise und Heilige, sondern ziemlich irdische Kumpel.
Wir glauben: Das Wort Jenisch stammt weder von einem Romanes Wort ab noch hängt es von der Bedeutung her mit einem jiddischen Wort zusammen.
Die weit her gesuchte Theorie von den weisen Chochemern hält der historischen Prüfung nicht stand; es ist Zeit, nahelie gendere Erklärungen zu betrachten – etwa jene, dass «jenisch» aus ei
nem mittelalterlichen deutschenWort «Jenne» stammen könnte.
Willi Wottreng, Historiker M. A.
Anmerkungen
Siehe auch: Scharotl, Februar 2019: Willi
Wottreng: «Jenische geniessen das Leben – eine kleine Wortschichte». Der vorliegen
de Teil II ist erschienen in Scharotl, Juni
2019.
1) Johann Nikolaus Becker: Mitglied des
Bezirks-Gerichtes in Köln): Actenmässige
Geschichte der Räuberbanden an den
beyden Ufern des Rheins, (aus Criminal
Protokollen und geheimen Notizen des Dr.
Keil, ehemaligen öffentlichen Anklägers im
Ruhr-Departemente, Teil II, Köln 1804, S.
180
2) Johann Nikolaus Becker: Actenmässige
Geschichte Teil II, S. 188 f.