Fairness-Regeln für Forschende und Kulturschaffende aus Sicht der ethnischen Minderheiten

Wenn Forschende und Kulturschaffende über ethnische Minderheiten arbeiten – Jenische, Sinti und auch Roma – sind sie aufgefordert, folgende Fairnessregeln zu beachten. Die Grundregel ist: Arbeiten „über“ Minderheiten
sollen immer auch Arbeiten „mit“ den Minderheiten sein. Unter diesen Bedingungen werden
Minderheitenvertretungen ihrerseits versuchen, Forschungen und Kulturprojekte zu ermöglichen und zu
erleichtern.

I. Verletzliche Minderheiten
Minderheiten sind besonders verletzlich. Wissenschaftliche und kulturelle Arbeiten können einzelnen Personen
oder einer Minderheit als Gesamtheit einen Schaden anrichten, der zwar oft nicht beabsichtigt ist, der aber von
den Betroffenen wieder gutgemacht werden muss, was für sie besonders schwierig sein kann.
Solche Schäden können Schäden des Ansehens der Gruppe, der Persönlichkeitsrechte, psychische und
materielle Schäden sein.

II. Information und Austausch
Forschende und Kulturschaffende sind darum aufgefordert, ihre Projekte mit betroffenen Einzelpersonen, je
nach Reichweite aber auch mit den repräsentativen Vertretungsorganen der ethnischen Minderheiten –
Jenische, Sinti, Roma – zu besprechen.
Dass Minderheiten bei Forschungs- und Kulturprojekten zu informieren und anzufragen sind, ist eine ethische
Anforderung, die sich in der Wissenschaft und der Kulturpraxis als Standard herausbildet. Summarisch
verwiesen sei auf die via Internet zugängliche Praxis etwa in Kanada und namentlich an der British-Columbia
University in Vancouver, die eine Vorreiter-Rolle spielt.
Dank solchen Gesprächen kann vermieden werden, dass Minderheiten wie in der früheren Ethnologie als
Objekte „kolonialistischer“ Forschung behandelt und als exotische Wesen ausgestellt werden.
Umgekehrt ermöglichen Vorgespräche und der wiederholte Austausch mit den Minderheitenvertretungen, dass
ein Forschungs- und Kulturprojekt in der Minderheitengemeinschaft akzeptiert wird und allfällige Bedenken und
Widerstände ausgeräumt werden können.

III. Mündliche Überlieferung verlangt besondere Vereinbarungen
Ein besonderer Grund, warum bei ethnischen Minderheiten wie den Jenischen, Sinti und Roma Gespräche mit
den Verantwortlichen – bzw. mit den „Ulmischen „ oder den „Elders“ – nicht nur nützlich, sondern notwendig
sind und verlangt werden, liegt in der mündlichen Tradition und Kultur dieser Minderheiten.
Da Denkweisen, Mentalitäten, Gebräuche, Tabus mündlich überliefert werden, sind sie aussenstehenden
Forschenden und Kulturschaffenden nicht ohne weiteres zugänglich. Aus den bestehenden schriftlichen Quellen
jedenfalls erschliessen sie sich nicht. Missverständnisse und Fehlinterpretationen sind daher vorprogrammiert.
Darum sind Projekte und deren Rahmenbedingungen und Prozeduren unbedingt zu besprechen und möglichst
auch Ergebnisse zur Diskussion zu stellen.
Der Zugang zur Sprache fehlt Forschenden ohnehin in den allermeisten Fällen.
Ein einziges Beispiel mag genügen: Es ist Aussenstehenden nicht von vornherein klar, dass etwa Plätze von
sogenannten Fahrenden zu einem wesentlichen Teil Privat- und Intimbereich sind, vergleichbar den
Wohnungen von Sesshaften. Der Austausch ermöglicht es, Tabubereiche zu nennen und zu erkennen und
Lösungen zu suchen.

IV. Respekt gegenüber der Vorarbeit
Forschende und Kulturschaffende beuten unbewusst oft Vorarbeiten der Minderheitenorganisationen aus, ohne
korrekt darauf hinzuweisen. Forschende und Kulturschaffende, die sich mit den ethnischen Minderheiten – und
in der Schweiz speziell mit der anerkannten nationalen Minderheit der Jenischen und Sinti beschäftigen –
übersehen gern, dass sie sich auf langjährige Information, Forschung, Aufklärung der Organisationen der
Minderheiten und ihrer Vertreter stützen, auf kollektives Wissen und viele anonyme Publikationen. Nur schon,
wenn sie etwa für ein Projekt Unterstützungsgelder erlangen, nutzen sie etwa die Tatsache, dass eine
Minderheit Beachtung gefunden hat dank der Arbeit ihrer Vertreterinnen und Vertreter.
Dieser Vorarbeit ist Respekt zu zollen durch die Kontaktnahme mit denen, die diese Vorarbeit geleistet haben
und durch korrekte Hinweise. Es geht darum, Aneignung ohne Zustimmung und damit Ausbeutung zu
verhindern.

V. Aktenkonsultation braucht Bewilligung
Insbesondere wo Forschende und Kulturschaffende sich auf Personalakten stützen, die zur
Verfolgungsgeschichte dieser Minderheiten gehören – Pro Juventute, Seraphisches Liebeswerk,
Vormundschaftsbehörden -, ist die Konsultation mit den Minderheitenvertretern zur Forschungsabsicht
unerlässlich. Diese Akten sind teilweise auch juristisch Besitz der Minderheiten oder ihrer Angehörigen.
Die Minderheitenvertretungen verlangen hier das Recht, mitzuentscheiden, um sicherzustellen, dass die
Minderheiten und ihre Angehörigen nicht ein zweites Mal Opfer von Diskriminierung und Entwürdigung werden.
In der Schweiz ist diese Konsultation teilweise institutionalisiert: Bei der Benutzung der Akten der Pro Juventute
und des Seraphischen Hilfswerks im Bundesarchiv ist die formelle Zustimmung von Vertreterinnen und
Vertretern der Minderheiten notwendig. Der Bund wirkt hier koordinierend.

VI. Anonymisierungen und Nennungen sind abzuwägen
Die Zusicherung der Anonymität von Betroffenen gewährleistet keinen genügenden Schutz. Im Gegenteil, unter
Umständen kann die Nichtnennung von Personen zu ihrer erneuten Nullifizierung – der kulturellen Vernichtung – beitragen. Darum ist mit den Minderheitenvertretungen zu besprechen, was ein angemessener Umgang mit
Akten und Anonymisierung ist.
Das schweizerische Bundesarchiv, aber auch andere Archive, machen es sich zu einfach, wenn sie generell
einfach auf Anonymisierung bestehen. Es bildet sich in der Holocaust-Forschung eine Praxis heraus, wonach
KZ-Insassen in bestimmten Zusammenhängen genannt werden. Das kann zu ihrer Rehabilitierung beitragen.
Doch sollte bei der Darstellung von einzelnen oder kollektive Opferschicksalen, soweit aus den Akten
ersichtlich, zumindest auf die Zugehörigkeit einer Person oder Gruppe zur Minderheit der Jenischen, Sinti oder
Roma hingewiesen werden. Denn die Verfolgung dieser Minderheiten ist in besonderem Mass ethnisch geprägt
und nicht „nur“ sozialpolitisch wie etwa die Verdingung von Kindern oder die Sterilisierung von unehelichen
Müttern.

VII. Einbezug von Minderheitsangehörigen
In Gruppen-Gremien und Gruppenarbeiten soll je nach Art der forschenden Gruppe versucht werden, einen
oder mehrere Angehörige der Minderheiten als Vollmitglieder einzubeziehen. Sie bereichern die Sichtweise.

VIII. Ergebnisse zur Stellungnahme vorlegen
Ergebnisse von Forschungsarbeiten und wichtigen Kulturprojekten sind den direkt Betroffenen, aber auch den
verantwortlichen Repräsentanten der Minderheiten anzukündigen bzw. zu zeigen. Je nach Forschungsprojekt
ist es angezeigt, dies schon im Verlauf der Arbeit zu tun, sinnvollerweise jedenfalls vor Publikation. Die
Minderheitenvertretungen müssen die Möglichkeit haben, dazu Stellung zu nehmen.
Dies erneut, weil so unter Umständen kulturelle Missverständnisse frühzeitig vermieden werden können.
Keineswegs ist damit gemeint, dass Minderheitenvertretungen sich ein Veto im Bereich Wissenschaft und Kultur
anmassen, aber sie verlangen ein Anhörungsrecht. Forschende und Kulturschaffende sollen auf Einwände
angemessen reagieren, im kritischen Fall, indem sie deutlich machen, dass die Minderheitenvertreter einer
Arbeit ablehnend gegenüber stehen.

IX. Sichtbarmachung bei der Präsentation der Ergebnisse
Minderheitenvertreter sind bei der Präsentation von Arbeiten im wissenschaftlichen und Forschungsbereich
einzuladen, ihr Beitrag ist angemessen und zu würdigen, allenfalls sollen sie zu Wort kommen.
Dieser an sich selbstverständliche Anspruch wird in der Praxis häufig missachtet. Minderheitenvertretungen
haben hier oft eine erhöhte Sensibilität und Verletzlichkeitsgefühle: Es ist für sie wichtig, dass sie nicht
gleichsam permanent „zufällig“ übersehen und vergessen werden. Das gehört zu ihrem Kampf für die
Sichtbarmachung ihrer Existenz. Und da sie Forschungs- und Kulturprojekte grundsätzlich darum unterstützen
weil sie zur Sichtbarkeit der Minderheiten beitragen, gehört auch die Respektierung des Wunsches nach
Sichtbarkeit bei der Präsentation von Arbeiten zu den Fairness-Regeln, die beachtet werden sollen.

Die Radgenossenschaft erklärt sich als Dachorganisation der nationalen Minderheit der Schweizer Jenischen
und Sinti solidarisch mit allen Minderheitenvölkern dieser Welt, egal auf welche Ursprünge sie sich beziehen –
Travellers, Sami, Indigene auf dem amerikanischen Kontinent und viele weitere –, und verlangt gemeinsam mit
ihnen den Respekt vor ihrer Kultur und ihren Traditionen und die Einhaltung ethischer Grundlagen und
Fairness-Regeln auch in Forschung und Kultur.

Geschäftsleitung der Radgenossenschaft der Landstrasse,
verabschiedet am 4. Dezember 2017 und ergänzt