Rede von Prof. Heinz Rhyn, Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich, an der
Vernissagefeier für das Lehrmittel «Jenische – Sinti – Roma», am 31. März 2023.
«Nichts über uns ohne uns»
PH Zürich, 31. März 2023
Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Gäste, liebe Kolleginnen und Kollegen
Es ist mir eine grosse Freude die heutige Vernissage des Lehrmittelprojekts «Jenische, Sinti,
Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten der Schweiz» eröffnen zu dürfen. Ich tue dies mit
Freude und etwas Stolz. Ich heisse Sie alle also ganz herzliche willkommen bei uns an der
Pädagogischen Hochschule Zürich.
Die heutige Vernissage gilt zwei Produkten, die eng miteinander verbunden sind, ja
eigentlich zusammengehören. Es handelt sich zum einen um das das Buch für die breite
Öffentlichkeit, das im Münsterverlag erschienen ist, und zum andern um das Lehrmittel, das
auf der Homepage der Stiftung Erziehung zur Toleranz heruntergeladen werden kann.
(Kommentar: Beide Produkte liegen dann vorne, man kann sie hochhalten.)
Dieses Lehrmittel zum Thema Jenische, Sinti und Roma richtet sich an Schülerinnen und
Schüler ab der 5. Klasse. Ziele des Lehrmittels sind die Befähigung zu respektvollem
Umgang und die Sensibilisierung für die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt in unserem
Land. Das Lehrmittel orientiert sich selbstverständlich am Lehrplan21, ist also
lehrplankonform. Es enthält konkrete Aufgabenstellungen für Schülerinnen und Schüler und
Kommentare und Erläuterungen für die Lehrpersonen. Es ist an den aktuellen didaktischen
und methodischen Unterrichtskonzepten ausgerichtet und kann bei Lehrpersonen unter dem
Label «pfannenfertig» laufen. Didaktisch orientiert es sich am Prinzip der Mehrperspektivität
und fördert bei den Schülerinnen und Schülern die Fähigkeit und den Willen zum
Perspektivenwechsel. «Pfannenfertig» heisst also nicht, dass es nichts zu tun gibt – im
Gegenteil: Diskussionen und Auseinandersetzungen mit dem Thema sind gefragt; es geht
darum Interesse zu wecken, Verstehen zu fördern und Haltungen zu entwickeln.
Vertreter:innen aus den Minderheiten der Jenischen, Sinti und Roma haben das Lehrmittel in
einem partizipativen Ansatz nicht nur initiiert, sondern sie haben es aktiv (mit)gestaltet. Das
entspricht heutigen ethischen Standards bezüglich wissenschaftlicher und pädagogischer
Arbeit zu ethnischen Minderheiten. Von Anfang an galt dabei der Grundsatz:
Nichts über uns ohne uns!
Hierin liegt denn auch das Neue und Einzigartige: Es handelt sich um eine Pionierarbeit im
Lehrmittelbereich – schon fast geschichtsträchtig. Das sind grosse Worte, die ich an dieser
Stelle ansatzweise begründen will:
1. Die Jenischen, Sinti und Roma haben bisher in der Schweiz kaum Eingang in
schulische Lehrmittel gefunden. Dabei ist dies ein altes Desiderat des Europarates,
des Bundes, einiger Kantone und der Minderheiten selbst. Bislang wurde über sie
erzählt und gelehrt. Nun erzählen sie selbst! Auch über sich.
2. Erstmals auf europäischer Ebene behandelt ein Lehrmittel gleichzeitig alle diese drei
Minderheitsgruppen gemeinsam. Das gibt es unseres Wissens in keinem anderen
europäischen Land!
3. Entsprechend den international geforderten ethischen Anforderungen wurde das
Lehrmittel erarbeitet auf der Grundlage einer Initiative von den drei
Bevölkerungsgruppen und von Nicht-Regierungsorganisationen; also «von unten»,
nach dem Prinzip: «Nichts über uns ohne uns.»
4. Das stellte übrigens eine Hochschule und Expert:innenorganisation wie die PH Zürich
vor besondere Herausforderungen: Es braucht einerseits Zeit für Gespräche und
Aushandlungsprozesse. Andererseits braucht es Vertrauen und integrative
Persönlichkeiten, die solche Prozesse anleiten können. Schliesslich braucht es auch
Durchhaltewillen auf allen Seiten.
5. Das Bundesamt für Kultur BAK hat das Lehrmittel massgeblich unterstützt und
Bundespräsident Alain Berset hat ein Begleitwort dazu verfasst.
Das Lehrmittel basiert auf neun Portraits. Selbstbeschreibungen und Erzählungen von
Angehörigen der drei Minderheiten bilden den Ausgangspunkt für die Lernprozesse von
Kindern und Jugendlichen. Fokussiert wird die gelebte Gegenwart, zu der jedoch auch der
Umgang mit Gewalterfahrungen der Vergangenheit gehören. Somit kommt auch die
historische Dimension des Umgangs mit den Minderheiten in der Schweiz und Europa – ich
erwähne etwa die Aktion «Kinder der Landstrasse» und den Holocaust an den Sinti und
Roma – zur Sprache.
Als Bildungshistoriker ist mir dieser geschichtliche Bezug besonders wichtig: Wir müssen
wissen, was früher geschehen ist, damit wir die Gegenwart verstehen und Ideen für eine
offenere und friedlichere Zukunft entwickeln können.
Mit dem biografischen Ansatz im vorliegenden Buch wird ein induktiver Zugang gewählt.
Dadurch soll die Festigung von Klischeevorstellungen vermieden werden. Die porträtierten
Menschen erzählen über ihren Alltag, über ihre Berufe, ihre Wohnsituationen, ihre Familien
und ihre Wünsche. Schülerinnen und Schüler lernen somit Einzelfälle und konkrete
Vertreterinnen und Vertreter der drei Minderheiten exemplarisch kennen. Es geht zunächst
um Menschen.
Ebenso können die Schüler:innen durch angeleitete Vergleiche die strukturellen
gesellschaftlichen Dimensionen herausarbeiten und erkennen. In diesem Zusammenhang
soll etwa der strukturellen Rassismus gegenüber Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz
erwähnt werden. Bei der Erprobung des Lehrmittels hat sich gezeigt, dass dieses Ziel mit
dem Lehrmittel erreicht werden kann. Dazu hören wir später noch mehr von den
Mitarbeiterinnen der PH Zürich.
Ich komme zum wohlverdienten Dank:
Ich danke – – – – –
den Jenischen, Sinti:zze und Rom:nja, die ihre Geschichten erzählt haben, für ihre
Offenheit und Ehrlichkeit, für ihren Mut, sich öffentlich zu exponieren
den Verteter:innen der Arbeitsgruppe «Jenische-Sinti-Roma» unter der Leitung von
Willi Wottreng für die Initiative,
der Stiftung Erziehung zur Toleranz SET für die gute Zusammenarbeit und das
Hosting des Lehrmittels,
allen Sponsoren und Stiftungen, die das Projekt unterstützt haben. Massgeblich das
Bundesamt für Kultur (BAK), und
den Kolleginnen und Kollegen der PH Zürich für ihre tolle Arbeit.
Ich wünsche dem Buch und dem Lehrmittel viel Erfolg und dem damit verbundenen
Anliegen, Verständnis und Akzeptanz für Minderheiten zu fördern, eine starke Wirkung und
grosse Verbreitung.
Herzlichen Dank