Aktion “Kinder der Landstrasse vom Bund als “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” taxiert

Die Zwangsmassnahmen gegen jenische «Kinder der Landstrasse» waren kein kultureller Genozid, aber ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dies gab der Bund nach Veröffentlichung des Gutachtens durch Prof. Oliver Diggelmann bekannt.

Einen Artikel darüber finden Sie hier:

Jenische & Sinti: Bundesrat entschuldigt sich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit | Tages-Anzeiger

2025-03-03T12:01:28+01:003. March 2025|

Die jenische Kultur – die erste umfassende Darstellung

Zu diesem Thema hat die Radgenossenschaft eine Grundsatzbroschüre erarbeitet. So umnfassend und zugleich kenntnisreich und anschaulich ist die jenische Kultur noch nie dargestellt worden: “Jenische Kultur. Ein unbekannter Reichtum. Was sie ist, wie sie war, wie sie weiterlebt.” 102 Seiten mit vielen Fotos, Zürich, Juli 2017. Die Broschüre ist für Mitglieder der Radgenossenschaft und Abonnenten des “Scharotl” gratis. An weitere Interessenten wird sie versandt zum Preis von Fr. 10.- plus Porto. Zu bestellen auf dem Sekretariat.

Titelbild der Kulturbroschüre:

2024-12-10T12:44:04+01:009. December 2024|

Fairness-Richtlinien für Forschende und Kulturschaffende

Fairness-Regeln für Forschende und Kulturschaffende aus Sicht der ethnischen Minderheiten

Wenn Forschende und Kulturschaffende über ethnische Minderheiten arbeiten – Jenische, Sinti und auch Roma – sind sie aufgefordert, folgende Fairnessregeln zu beachten. Die Grundregel ist: Arbeiten „über“ Minderheiten
sollen immer auch Arbeiten „mit“ den Minderheiten sein. Unter diesen Bedingungen werden
Minderheitenvertretungen ihrerseits versuchen, Forschungen und Kulturprojekte zu ermöglichen und zu
erleichtern.

I. Verletzliche Minderheiten
Minderheiten sind besonders verletzlich. Wissenschaftliche und kulturelle Arbeiten können einzelnen Personen
oder einer Minderheit als Gesamtheit einen Schaden anrichten, der zwar oft nicht beabsichtigt ist, der aber von
den Betroffenen wieder gutgemacht werden muss, was für sie besonders schwierig sein kann.
Solche Schäden können Schäden des Ansehens der Gruppe, der Persönlichkeitsrechte, psychische und
materielle Schäden sein.

II. Information und Austausch
Forschende und Kulturschaffende sind darum aufgefordert, ihre Projekte mit betroffenen Einzelpersonen, je
nach Reichweite aber auch mit den repräsentativen Vertretungsorganen der ethnischen Minderheiten –
Jenische, Sinti, Roma – zu besprechen.
Dass Minderheiten bei Forschungs- und Kulturprojekten zu informieren und anzufragen sind, ist eine ethische
Anforderung, die sich in der Wissenschaft und der Kulturpraxis als Standard herausbildet. Summarisch
verwiesen sei auf die via Internet zugängliche Praxis etwa in Kanada und namentlich an der British-Columbia
University in Vancouver, die eine Vorreiter-Rolle spielt.
Dank solchen Gesprächen kann vermieden werden, dass Minderheiten wie in der früheren Ethnologie als
Objekte „kolonialistischer“ Forschung behandelt und als exotische Wesen ausgestellt werden.
Umgekehrt ermöglichen Vorgespräche und der wiederholte Austausch mit den Minderheitenvertretungen, dass
ein Forschungs- und Kulturprojekt in der Minderheitengemeinschaft akzeptiert wird und allfällige Bedenken und
Widerstände ausgeräumt werden können.

III. Mündliche Überlieferung verlangt besondere Vereinbarungen
Ein besonderer Grund, warum bei ethnischen Minderheiten wie den Jenischen, Sinti und Roma Gespräche mit
den Verantwortlichen – bzw. mit den „Ulmischen „ oder den „Elders“ – nicht nur nützlich, sondern notwendig
sind und verlangt werden, liegt in der mündlichen Tradition und Kultur dieser Minderheiten.
Da Denkweisen, Mentalitäten, Gebräuche, Tabus mündlich überliefert werden, sind sie aussenstehenden
Forschenden und Kulturschaffenden nicht ohne weiteres zugänglich. Aus den bestehenden schriftlichen Quellen
jedenfalls erschliessen sie sich nicht. Missverständnisse und Fehlinterpretationen sind daher vorprogrammiert.
Darum sind Projekte und deren Rahmenbedingungen und Prozeduren unbedingt zu besprechen und möglichst
auch Ergebnisse zur Diskussion zu stellen.
Der Zugang zur Sprache fehlt Forschenden ohnehin in den allermeisten Fällen.
Ein einziges Beispiel mag genügen: Es ist Aussenstehenden nicht von vornherein klar, dass etwa Plätze von
sogenannten Fahrenden zu einem wesentlichen Teil Privat- und Intimbereich sind, vergleichbar den
Wohnungen von Sesshaften. Der Austausch ermöglicht es, Tabubereiche zu nennen und zu erkennen und
Lösungen zu suchen.

IV. Respekt gegenüber der Vorarbeit
Forschende und Kulturschaffende beuten unbewusst oft Vorarbeiten der Minderheitenorganisationen aus, ohne
korrekt darauf hinzuweisen. Forschende und Kulturschaffende, die sich mit den ethnischen Minderheiten – und
in der Schweiz speziell mit der anerkannten nationalen Minderheit der Jenischen und Sinti beschäftigen –
übersehen gern, dass sie sich auf langjährige Information, Forschung, Aufklärung der Organisationen der
Minderheiten und ihrer Vertreter stützen, auf kollektives Wissen und viele anonyme Publikationen. Nur schon,
wenn sie etwa für ein Projekt Unterstützungsgelder erlangen, nutzen sie etwa die Tatsache, dass eine
Minderheit Beachtung gefunden hat dank der Arbeit ihrer Vertreterinnen und Vertreter.
Dieser Vorarbeit ist Respekt zu zollen durch die Kontaktnahme mit denen, die diese Vorarbeit geleistet haben
und durch korrekte Hinweise. Es geht darum, Aneignung ohne Zustimmung und damit Ausbeutung zu
verhindern.

V. Aktenkonsultation braucht Bewilligung
Insbesondere wo Forschende und Kulturschaffende sich auf Personalakten stützen, die zur
Verfolgungsgeschichte dieser Minderheiten gehören – Pro Juventute, Seraphisches Liebeswerk,
Vormundschaftsbehörden -, ist die Konsultation mit den Minderheitenvertretern zur Forschungsabsicht
unerlässlich. Diese Akten sind teilweise auch juristisch Besitz der Minderheiten oder ihrer Angehörigen.
Die Minderheitenvertretungen verlangen hier das Recht, mitzuentscheiden, um sicherzustellen, dass die
Minderheiten und ihre Angehörigen nicht ein zweites Mal Opfer von Diskriminierung und Entwürdigung werden.
In der Schweiz ist diese Konsultation teilweise institutionalisiert: Bei der Benutzung der Akten der Pro Juventute
und des Seraphischen Hilfswerks im Bundesarchiv ist die formelle Zustimmung von Vertreterinnen und
Vertretern der Minderheiten notwendig. Der Bund wirkt hier koordinierend.

VI. Anonymisierungen und Nennungen sind abzuwägen
Die Zusicherung der Anonymität von Betroffenen gewährleistet keinen genügenden Schutz. Im Gegenteil, unter
Umständen kann die Nichtnennung von Personen zu ihrer erneuten Nullifizierung – der kulturellen Vernichtung – beitragen. Darum ist mit den Minderheitenvertretungen zu besprechen, was ein angemessener Umgang mit
Akten und Anonymisierung ist.
Das schweizerische Bundesarchiv, aber auch andere Archive, machen es sich zu einfach, wenn sie generell
einfach auf Anonymisierung bestehen. Es bildet sich in der Holocaust-Forschung eine Praxis heraus, wonach
KZ-Insassen in bestimmten Zusammenhängen genannt werden. Das kann zu ihrer Rehabilitierung beitragen.
Doch sollte bei der Darstellung von einzelnen oder kollektive Opferschicksalen, soweit aus den Akten
ersichtlich, zumindest auf die Zugehörigkeit einer Person oder Gruppe zur Minderheit der Jenischen, Sinti oder
Roma hingewiesen werden. Denn die Verfolgung dieser Minderheiten ist in besonderem Mass ethnisch geprägt
und nicht „nur“ sozialpolitisch wie etwa die Verdingung von Kindern oder die Sterilisierung von unehelichen
Müttern.

VII. Einbezug von Minderheitsangehörigen
In Gruppen-Gremien und Gruppenarbeiten soll je nach Art der forschenden Gruppe versucht werden, einen
oder mehrere Angehörige der Minderheiten als Vollmitglieder einzubeziehen. Sie bereichern die Sichtweise.

VIII. Ergebnisse zur Stellungnahme vorlegen
Ergebnisse von Forschungsarbeiten und wichtigen Kulturprojekten sind den direkt Betroffenen, aber auch den
verantwortlichen Repräsentanten der Minderheiten anzukündigen bzw. zu zeigen. Je nach Forschungsprojekt
ist es angezeigt, dies schon im Verlauf der Arbeit zu tun, sinnvollerweise jedenfalls vor Publikation. Die
Minderheitenvertretungen müssen die Möglichkeit haben, dazu Stellung zu nehmen.
Dies erneut, weil so unter Umständen kulturelle Missverständnisse frühzeitig vermieden werden können.
Keineswegs ist damit gemeint, dass Minderheitenvertretungen sich ein Veto im Bereich Wissenschaft und Kultur
anmassen, aber sie verlangen ein Anhörungsrecht. Forschende und Kulturschaffende sollen auf Einwände
angemessen reagieren, im kritischen Fall, indem sie deutlich machen, dass die Minderheitenvertreter einer
Arbeit ablehnend gegenüber stehen.

IX. Sichtbarmachung bei der Präsentation der Ergebnisse
Minderheitenvertreter sind bei der Präsentation von Arbeiten im wissenschaftlichen und Forschungsbereich
einzuladen, ihr Beitrag ist angemessen und zu würdigen, allenfalls sollen sie zu Wort kommen.
Dieser an sich selbstverständliche Anspruch wird in der Praxis häufig missachtet. Minderheitenvertretungen
haben hier oft eine erhöhte Sensibilität und Verletzlichkeitsgefühle: Es ist für sie wichtig, dass sie nicht
gleichsam permanent „zufällig“ übersehen und vergessen werden. Das gehört zu ihrem Kampf für die
Sichtbarmachung ihrer Existenz. Und da sie Forschungs- und Kulturprojekte grundsätzlich darum unterstützen
weil sie zur Sichtbarkeit der Minderheiten beitragen, gehört auch die Respektierung des Wunsches nach
Sichtbarkeit bei der Präsentation von Arbeiten zu den Fairness-Regeln, die beachtet werden sollen.

Die Radgenossenschaft erklärt sich als Dachorganisation der nationalen Minderheit der Schweizer Jenischen
und Sinti solidarisch mit allen Minderheitenvölkern dieser Welt, egal auf welche Ursprünge sie sich beziehen –
Travellers, Sami, Indigene auf dem amerikanischen Kontinent und viele weitere –, und verlangt gemeinsam mit
ihnen den Respekt vor ihrer Kultur und ihren Traditionen und die Einhaltung ethischer Grundlagen und
Fairness-Regeln auch in Forschung und Kultur.

Geschäftsleitung der Radgenossenschaft der Landstrasse,
verabschiedet am 4. Dezember 2017 und ergänzt

 

2024-12-10T12:39:17+01:008. December 2024|

Lehrmittel Jenische-Sinti-Roma: “Es handelt sich um eine Pionierarbeit”

Rede von Prof. Heinz Rhyn, Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich, an der
Vernissagefeier für das Lehrmittel «Jenische – Sinti – Roma», am 31. März 2023.
«Nichts über uns ohne uns»

PH Zürich, 31. März 2023

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Gäste, liebe Kolleginnen und Kollegen
Es ist mir eine grosse Freude die heutige Vernissage des Lehrmittelprojekts «Jenische, Sinti,
Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten der Schweiz» eröffnen zu dürfen. Ich tue dies mit
Freude und etwas Stolz. Ich heisse Sie alle also ganz herzliche willkommen bei uns an der
Pädagogischen Hochschule Zürich.
Die heutige Vernissage gilt zwei Produkten, die eng miteinander verbunden sind, ja
eigentlich zusammengehören. Es handelt sich zum einen um das das Buch für die breite
Öffentlichkeit, das im Münsterverlag erschienen ist, und zum andern um das Lehrmittel, das
auf der Homepage der Stiftung Erziehung zur Toleranz heruntergeladen werden kann.
(Kommentar: Beide Produkte liegen dann vorne, man kann sie hochhalten.)
Dieses Lehrmittel zum Thema Jenische, Sinti und Roma richtet sich an Schülerinnen und
Schüler ab der 5. Klasse. Ziele des Lehrmittels sind die Befähigung zu respektvollem
Umgang und die Sensibilisierung für die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt in unserem
Land. Das Lehrmittel orientiert sich selbstverständlich am Lehrplan21, ist also
lehrplankonform. Es enthält konkrete Aufgabenstellungen für Schülerinnen und Schüler und
Kommentare und Erläuterungen für die Lehrpersonen. Es ist an den aktuellen didaktischen
und methodischen Unterrichtskonzepten ausgerichtet und kann bei Lehrpersonen unter dem
Label «pfannenfertig» laufen. Didaktisch orientiert es sich am Prinzip der Mehrperspektivität
und fördert bei den Schülerinnen und Schülern die Fähigkeit und den Willen zum
Perspektivenwechsel. «Pfannenfertig» heisst also nicht, dass es nichts zu tun gibt – im
Gegenteil: Diskussionen und Auseinandersetzungen mit dem Thema sind gefragt; es geht
darum Interesse zu wecken, Verstehen zu fördern und Haltungen zu entwickeln.
Vertreter:innen aus den Minderheiten der Jenischen, Sinti und Roma haben das Lehrmittel in
einem partizipativen Ansatz nicht nur initiiert, sondern sie haben es aktiv (mit)gestaltet. Das
entspricht heutigen ethischen Standards bezüglich wissenschaftlicher und pädagogischer
Arbeit zu ethnischen Minderheiten. Von Anfang an galt dabei der Grundsatz:
Nichts über uns ohne uns!
Hierin liegt denn auch das Neue und Einzigartige: Es handelt sich um eine Pionierarbeit im
Lehrmittelbereich – schon fast geschichtsträchtig. Das sind grosse Worte, die ich an dieser
Stelle ansatzweise begründen will:
1. Die Jenischen, Sinti und Roma haben bisher in der Schweiz kaum Eingang in
schulische Lehrmittel gefunden. Dabei ist dies ein altes Desiderat des Europarates,
des Bundes, einiger Kantone und der Minderheiten selbst. Bislang wurde über sie
erzählt und gelehrt. Nun erzählen sie selbst! Auch über sich.
2. Erstmals auf europäischer Ebene behandelt ein Lehrmittel gleichzeitig alle diese drei
Minderheitsgruppen gemeinsam. Das gibt es unseres Wissens in keinem anderen
europäischen Land!
3. Entsprechend den international geforderten ethischen Anforderungen wurde das
Lehrmittel erarbeitet auf der Grundlage einer Initiative von den drei
Bevölkerungsgruppen und von Nicht-Regierungsorganisationen; also «von unten»,
nach dem Prinzip: «Nichts über uns ohne uns.»
4. Das stellte übrigens eine Hochschule und Expert:innenorganisation wie die PH Zürich
vor besondere Herausforderungen: Es braucht einerseits Zeit für Gespräche und
Aushandlungsprozesse. Andererseits braucht es Vertrauen und integrative
Persönlichkeiten, die solche Prozesse anleiten können. Schliesslich braucht es auch
Durchhaltewillen auf allen Seiten.
5. Das Bundesamt für Kultur BAK hat das Lehrmittel massgeblich unterstützt und
Bundespräsident Alain Berset hat ein Begleitwort dazu verfasst.
Das Lehrmittel basiert auf neun Portraits. Selbstbeschreibungen und Erzählungen von
Angehörigen der drei Minderheiten bilden den Ausgangspunkt für die Lernprozesse von
Kindern und Jugendlichen. Fokussiert wird die gelebte Gegenwart, zu der jedoch auch der
Umgang mit Gewalterfahrungen der Vergangenheit gehören. Somit kommt auch die
historische Dimension des Umgangs mit den Minderheiten in der Schweiz und Europa – ich
erwähne etwa die Aktion «Kinder der Landstrasse» und den Holocaust an den Sinti und
Roma – zur Sprache.
Als Bildungshistoriker ist mir dieser geschichtliche Bezug besonders wichtig: Wir müssen
wissen, was früher geschehen ist, damit wir die Gegenwart verstehen und Ideen für eine
offenere und friedlichere Zukunft entwickeln können.
Mit dem biografischen Ansatz im vorliegenden Buch wird ein induktiver Zugang gewählt.
Dadurch soll die Festigung von Klischeevorstellungen vermieden werden. Die porträtierten
Menschen erzählen über ihren Alltag, über ihre Berufe, ihre Wohnsituationen, ihre Familien
und ihre Wünsche. Schülerinnen und Schüler lernen somit Einzelfälle und konkrete
Vertreterinnen und Vertreter der drei Minderheiten exemplarisch kennen. Es geht zunächst
um Menschen.
Ebenso können die Schüler:innen durch angeleitete Vergleiche die strukturellen
gesellschaftlichen Dimensionen herausarbeiten und erkennen. In diesem Zusammenhang
soll etwa der strukturellen Rassismus gegenüber Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz
erwähnt werden. Bei der Erprobung des Lehrmittels hat sich gezeigt, dass dieses Ziel mit
dem Lehrmittel erreicht werden kann. Dazu hören wir später noch mehr von den
Mitarbeiterinnen der PH Zürich.
Ich komme zum wohlverdienten Dank:
Ich danke – – – – –
den Jenischen, Sinti:zze und Rom:nja, die ihre Geschichten erzählt haben, für ihre
Offenheit und Ehrlichkeit, für ihren Mut, sich öffentlich zu exponieren
den Verteter:innen der Arbeitsgruppe «Jenische-Sinti-Roma» unter der Leitung von
Willi Wottreng für die Initiative,
der Stiftung Erziehung zur Toleranz SET für die gute Zusammenarbeit und das
Hosting des Lehrmittels,
allen Sponsoren und Stiftungen, die das Projekt unterstützt haben. Massgeblich das
Bundesamt für Kultur (BAK), und
den Kolleginnen und Kollegen der PH Zürich für ihre tolle Arbeit.
Ich wünsche dem Buch und dem Lehrmittel viel Erfolg und dem damit verbundenen
Anliegen, Verständnis und Akzeptanz für Minderheiten zu fördern, eine starke Wirkung und
grosse Verbreitung.
Herzlichen Dank

2024-12-10T13:01:11+01:0011. April 2023|

Woher kommt das Wort “Jenisch”?

Jenische geniessen das Leben – eine kleine Wortgeschichte (I)

Angeblich komme das Wort «Jenisch» aus der Sprache der Roma. Sprach
wissenschafter behaupten dies seit Jahrzehnten. Und zwar solle es aus ei
nem Wort «džan» oder auch «džin» stammen, was «wissen» und «einge
weiht sein» bedeute.(1)
Wir glauben das nicht. Die Konstruktion der Sprachforscher hängt an einem
sehr dünnen Faden. Dass sich das Wort tatsächlich aus dem Romanes ent
wickelt hat, dafür gibt es keine Beweise.
Der erste Wissenschafter, der dies behauptete, war ein Siegmund A. Wolf. In
seinem Buch «Wörterbuch des Rotwelschen», das 1956 erstmals erschien,
erklärt er: «Jenisch geht zurück auf die zigeunerische Wurzel ‹dšan› – wis
sen». Jenische Leute seien also «kluge gescheite Leut». Dass sie das sind,
stimmt ja, aber das Wort muss nicht genau das heissen. Wolf sagt noch,
dass der Ausdruck also ähnlich sei wie der jiddische Ausdruck «Kochem
Loschen». Auch das bedeute «Kluge Leute». Darum müsse das wohl stim
men.(2) Seither schreiben ihm viele Sprachforscher ab. Heute bezeichnet
sich eine Vereinigung von Händlern in Luxemburg als «Kochemer Loschen».
Der Forscher Yaron Matras, der den Einfluss des Romanes auf die deutsche
Sprache untersucht hat, schreibt, dass von der Formenbildung her eine sol
che Entwicklung zwar möglich wäre, aber für wahrscheinlich hält er es nicht;
denn in älteren volkstümlichen Sprachvarianten im deutschen Raum, vor
dem 18. Jahrhundert, fänden sich jedenfalls keinerlei Romanes-Wörter.(3)
Viele haben an dieser Theorie – das Wort «Jenisch» komme aus dem Ro
manes-Wort für «Wissen», «klug» oder «Eingeweihtsein» – wohl auch dar
um festgehalten, weil sich auf diese Weise ein geheimnisvoller Mantel um
die Jenischen legt. Sie wären also Menschen mit dem geheimen Wissen.
Aber es ist schwer verständlich, warum Jenische gerade ein Romanes-Wort
für ihre Bezeichnung gewählt haben sollen. Oder warum Nichtjenische, die
kein Romanes können, zur Bezeichnung von Jenischen ausgerechnet ein
Romanes-Wort wählen sollten. Oder warum Roma-Angehörige, die sich
wohl selber als Wissende verstanden, gerade die Jenischen als Wissende
bezeichnet sollten.
Tatsächlich ist diese Gleichsetzung von «Jenisch» mit «Wissen» erstmals
beim Hauptmann der Königlichen Bayrischen Armee Josef K. von Train zu
finden, der zuhanden von Polizei und Justiz in den 1830er Jahren die Spra
che von «Gaunern» und die Sprache von Jenischen aufschrieb. Und weil er
den Ausdruck «Chochemer Loschen» kannte und den Ausdruck «Jenische
Sprache», sagte er, dass «Jenische Sprache» volkstümlich für «Chochemer
Loschen» stehe.(4) Vielleicht hatte er das so gehört. Und später suchten
manche nach einer entsprechenden Herleitung des Wortes «jenisch».
Einige halten zu dieser Theorie, weil sie offenbar fürchten, man müsste
sonst das Wort «jenisch» auf das Wort «Gauner / Jauner» zurückführen. Wir
glauben beides nicht. Wir glauben, dass «Jenisch» aus einem eigenständi
gen Wort in der deutschen Volkssprache des Mittelalters kommt, das wie
viele Wörter verlorenging. Oder fast verlorenging.
Sucht man beim Autor Sebastian Brant, in dessen Buch «Narrenschiff» sich
einige heute noch benutzte jenische Wörter finden, kann man eine Entde
ckung machen. Brant hat auch ein Werk eines fahrenden Kirchenmannes
des 13. Jahrhunderts herausgegeben, der sich «Freidank» nannte: «Vridan
kes Bescheidenheit». In einer Folgeausgabe aus 1538 findet sich ein Wort,
das bisher sprachgeschichtlich weder beachtet noch in seiner Entwicklung
verfolgt worden ist: «Jenne». Ob die Verse wirklich von diesem Freidank
stammen, ist unklar, da sie erst später in einem Buch auftauchen. Jedenfalls
wird in diesen Freidank-Versen ein Mann als ein «Jenne» bezeichnet, weil er
mit seiner Frau spaziert oder mit ihr zu Hause sein Vergnügen hat.(5) Dem
Zusammenhang nach bedeutet das eine Person, die nicht auf dem Feld ar
beitet oder in einem Gewerbe wie «normale» Bauern oder Bürger. Sondern
die den Tag und das Leben geniesst. Sagen wir: einen Müssiggänger und
Geniesser. Es ist kein Dieb, aber allenfalls ein Tagedieb aus deren Sicht.
Die Verse wurden 1854 von einem Friedrich Zarncke wieder veröffentlicht,
und die bekannten Brüder Grimm haben das Wort samt den Versen im
19. Jahrhundert in ihr deutsches Wörterbuch aufgenommen: «Jenne» – und
zwar der Jenne oder die Jenne –, ohne Erklärung zur Wortbedeutung.(6)
Es gibt weitere Spuren. In einem Lexikon von 1906 aus den Niederlanden
über die Sprache von sogenannten Gaunern – die Sprache heisst «Boeven
Taal» – finden wir ein Wort «jennen». Dieses bezeichne «spielen, lügen».(7)
Da ist man nicht so weit vom «Jenne», dem Müssiggänger aus dem Vers bei
Brant entfernt, der statt zu arbeiten die von Gott geschenkten Stunden ver
spielt und vielleicht nach aussen so tut, als arbeite er.
Es bleibt rätselhaft, warum der Sprachforscher Wolf das Wort aus dem Ro
manes herleitet, wo ihm auch das näher gelegen Wort «Jenne» und
«jennen» zur Verfügung gestanden hätte.
Vielleicht liegt beim frühen Wort «Jenne» sogar ein Schlüssel zu Einsichten
über die Existenz der Jenischen vor dem Dreissigjährigen Krieg, ist es doch
älter als dieser Krieg. Ein Sprachforscher, den wir hier nicht namentlich er
wähnen, weil er sich in einem privaten Mail an den Autor geäussert hat,
schreibt, dass die Vermutung, wonach das alte Wort «Jenne» eine Verbin
dung zu den «Jenischen» habe, «eine ernstzunehmende Deutungskonkur
renz» zu den bisherigen Erklärungen für die Bezeichnung der Jenischen
darstelle.
Willi Wottreng, M.A., Historiker

Anmerkungen
(1) Siehe: Friedrich Kluge/Elmar Seebold: Ety
mologisches Wörterbuch der deutschen Spra
che, 23. erweiterte Auflage, Walter de Gruyter,
Berlin/New York 1995, S. 411. Wikipedia,
Stichwort «Jenische Sprache», Abschnitt
«Sprachbezeichnung»; sowie diverse einzelne
Autoren. Vgl. auch: Hansjörg Roth: Jenisches
Wörterbuch. Aus dem Sprachschatz Jenischer
in der Schweiz, Frauenfeld / Stuttgart / Wien,
2001; Stichwort «Jänisch», S. 285 f.

(2) Sigmund A. Wolf: Wörterbuch des Rotwel
schen. Deutsche Gaunersprache; zitiert nach
der 2. Auflage, Bibliographisches Institut, Ham
burg 1985; Stichwort «jenisch», S. 144/145.

(3) Yaron Matras: The Romani element in Ger
man secret languages: Jenisch and Rot
welsch, in: Derselbe (Hrsg): The Romani ele
ment in non-standard speech, Wiesbaden
1998, S. 193–230, hier: S. 196 Textteil und
Anm. 6, aus dem Englischen zusammenfas
send referiert von ww.

(4) Josef Karl von Train: «Chochemer Lo
schen. Wörterbuch der Gauner- und Dieb –
vulgo jenischen Sprache nach Criminalac
ten…», Verlag F. W. Goesche, Meissen 1833.
Nachdruck ULAN Press, Leipzig 2012.

(5) Verse von Freidank, hrsg. von Sebastian
Brant, Worms 1538. Publiziert in: Friedrich
Zarncke (Hrsg.): Sebastian Brants Narren
schiff, Georg Wigands Verlag, Leipzig 1854,
167b. Wiederum enthalten in: Jacob und Wil
helm Grimm: Deutsches Wörterbuch, ab 1854,
dort unter dem Stichwort Jenne» (Online
version: http://dwb.uni-trier.de/de/die-digitale
version/volltextdigitalisierung).

(6) Siehe oben, Anmerkung 5.

(7) W. L. H. Köster Henke: De Boeventaal
(ww. Die Gauner-Sprache), zakwoordenboekje
van het Bargoenchsof de taal van de jongens
van de vlakte, in woorden en zinnen alphabe
tisch gerangschikt, Verlag Schaafsma / Brou
wer, Dockum 1906, S. 28. Den Hinweis fand
ich in: Heidi Schleich: Das Jenische in Tirol,
3. erweiterte Auflage, EYE Literaturverlag der
Wenigerheiten, Landeck 2018, S. 99, Anm. 2.

Ein Wort und eine Räubergeschichte
Warum «jenisch» eher von «Jenne» stammt
als von einem Romanes Wort (II)

Das «Scharotl» hat im Februar 2019 kritisiert, es sei unwahrscheinlich,
dass das Wort Jenisch aus dem Romanes komme, wie Sprachwissenschaftler annehmen.

Es stammeeher von einem deutschen Wort«Jenne», das im Jahr 1538 in einem
Gedicht bezeugt ist und einen Lebensgeniesser bezeichnet.
«Jenisch» heisse weise sein, eingeweiht sein, lautete die bisherige Theorie. Sie stützt sich auch darauf,
dass angeblich das jiddische Wort«chochem» dasselbe bezeichne,nämlich Eingeweihte, Wissende, und dass Jenische beide Wörter für sich
verwendet hätten. Diese Erklärung findet sich etwa in der Einleitungüber die «jenische Sprache» in «Wikipedia». Dass Jenische so etwas wie Eingeweihte seien, Wissende,

findet sich etwa in der Einleitung über die «jenische Sprache» in«Wikipedia». Dass Jenische so etwas wie Eingeweihte seien, Wissende oder fast Heilige, klingt natürlich
schmeichelnd. Aber schauen wir uns das Wort «chochem» und «Kochemer» an.
Im 17. und Anfang 18. Jahrhundert gab es gemäss Prozessakten sogenannte Gauner- oder Räuberbanden links und rechts des Rheins, deren Aktivitäten von der Pfalz bis in die
Niederlande reichten. Etwa die des legendären Johannes Bückler, genannt Schinderhannes. Die von Mathias Weber, genannt der Fetzer, den wir vermutungsweise einem jenisch
geprägten Milieu zurechnen, werden seine Kumpels doch Scherenschleifer genannt (1). Oder die von Abraham Picard, einem Anführer einer jüdischen Gruppe. Gemäss den

vorhandenen Quellen abenteuerten sie –nur eigenen Gesetzen folgend – in erschiedenen Zusammensetzungen durch die Lande und arbeiteten
dabei auch miteinander zusammen, Fetzer etwa und Picard. So müssen jiddische Wörter in dieses Milieu eingeflossen sein.
Die in wechselnden Zusammensetzungen operierenden Gruppen verwendeten das Wort «Kochemer» etwa, wenn es darum ging, ob jemand
vertrauenswürdig sei, ob man ihn in die Planung eines Überfalles, der Einrichtung eines Fluchtortes, der Organisierung eines Beutedepots
einbeziehen könnte oder nicht. Und wenn man fand, der sei vertrauenswürdig, nannte man die Person einen «Kochemer». Gemäss einem
Prozessberichterstatter namens Becker erklärt Fetzer, der nichtjüdische Bandenführer, dass fast alle Häuser an einem bestimmten Ort «kochem»
seien oder dass sie bei einem Mann einkehren könnten, der «kochem» sei.
Verwendet wurde das Wort nicht speziell für Jenische, es finden sich jedenfalls keine Hinweise dafür: Offensichtlich konnte irgend ein Wirt
oder irgend ein Müller «kochem» sein, vertrauenswürdig. Oder ein jüdisches Haus .

Dass dann Polizeibeamte oder auch Sprachforscher schlossen, es seien damit Jenische gemeint, ist ihre Phantasie. In den Quellen ist dies schlicht nicht
belegbar. Es waren offensichtlich alle gemeint, die man in einen Planeinweihen konnte.
Auch von dieser Seite betrachtet, stürzt die These zusammen, dass «Jenische» nach dem Beispiel der «Chochemer» Eingeweihte oder
Wissende bedeute. Es wurden auch andere Leute damit bezeichnet als Jenische. Und das waren nicht Weise und Heilige, sondern ziemlich irdische Kumpel.
Wir glauben: Das Wort Jenisch stammt weder von einem Romanes Wort ab noch hängt es von der Bedeutung her mit einem jiddischen Wort zusammen.

Die weit her gesuchte Theorie von den weisen Chochemern hält der historischen Prüfung nicht stand; es ist Zeit, nahelie gendere Erklärungen zu betrachten – etwa jene, dass «jenisch» aus ei
nem mittelalterlichen deutschenWort «Jenne» stammen könnte.

Willi Wottreng, Historiker M. A.

Anmerkungen
Siehe auch: Scharotl, Februar 2019: Willi
Wottreng: «Jenische geniessen das Leben – eine kleine Wortschichte». Der vorliegen
de Teil II ist erschienen in Scharotl, Juni
2019.
1) Johann Nikolaus Becker: Mitglied des
Bezirks-Gerichtes in Köln): Actenmässige
Geschichte der Räuberbanden an den
beyden Ufern des Rheins, (aus Criminal
Protokollen und geheimen Notizen des Dr.
Keil, ehemaligen öffentlichen Anklägers im
Ruhr-Departemente, Teil II, Köln 1804, S.
180

2) Johann Nikolaus Becker: Actenmässige
Geschichte Teil II, S. 188 f.

 

2024-12-09T14:17:40+01:001. December 2022|

Aus der Jugend unseres Präsidenten Daniel Huber an der Zürcher Hellmutstrasse

Daniel Huber, der heutige Präsident der Radgenossenschaft, verbrachte einen Teil seiner Jugend in einer Wohnung an der Hellmutstrasse und erzählt im Buch “Die lange Geschichte einer kurzen Strasse” von Hannes Lindenmeyer über seine Erlebnisse.

 

Mehr dazu hier:

Scharotl Hellmutstrasse

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Standplatz Geerenweg unter der Europabrücke, in den 1960er Jahren

(Foto aus einem Fernsehbericht.)

2024-12-10T12:52:19+01:003. September 2018|

Historischer jenischer Wagen

Die Radgenossenschaft hat für ihr Dokumentationszentrum und Museum einen historischen jenischen Wohnwagen erwerben können. Es ist ein einmaliges Objekt, wie es in der Schweiz wohl kein zweites gibt. In bestem Zustand übrigens, dies auch im Innern. Wir haben ihn auf unserem Stand-, Durchgangs- und Campingplatz Rania stationiert, wo er ein wunderbarer Blickfang sein wird. Die Rania wird damit noch mehr ein Daheim für Jenische und Sinti und ein interessanter Ort für Touristen. Der Kauf wurde getätigt durch die Radgenossenschaft und durch die Unterstützung aus den Kulturfonds mehrerer Kantone. Siehe Sponsorliste. Wir danken dafür.

sponsortafel_scharotl

2024-12-10T12:58:41+01:001. March 2017|

Stephan Eicher über seine jenischen Wurzeln

Im Interview mit der Zeitschrift der Gesellschaft für bedrohte Völker spricht der Rock-Musiker Stephan Eicher über seine Wurzeln im jenischen Volk. “Ich weiss, dass einer der frühesten urkundlich bestätigten Vorfahren, Ruedin Eicher, 1407 als Mitglied der Uznacher Kreuzbruderschaft der fahrenden Leute begetreten ist, und ich als Kind die Fotografie meiner Urgrossmutter, der Maria Anna Josefa Moser aus Obervaz auf dem Nachttisch meiner Grosseltern gesehen habe, das Bildnis einer hageren, aufrecht stehenden und rauchenden Frau.” (Voice, Nr. 2/2016)

Interview mit Stephan Eicher, Voice Nr. 2/2016 (PDF)

2017-12-27T14:49:38+01:0020. December 2016|
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